Die Bhagavad Gita - die "Bibel" Indiens

Kampf oder Nicht-Kampf, das ist hier die Frage … „Wenn ich keinen Lichtstrahl erblicke, greife ich zur Bhagavadgita …“

… und „in der Bhagavadgita finde ich einen Trost, den ich selbst in der Bergpredigt vermisse.“ Ist damit schon alles gesagt über das meistgelesene und meistzitierte Werk der Hinduliteratur? Mitnichten, auch wenn dies die Worte von Mahatma Gandhi sind. Aus meiner Sicht beantwortete die „Bibel der Hindus“ schon vor mehreren Tausend Jahren eine heute wieder aktuelle Frage: Wie werde ich ein friedvoller Krieger?

Sind Sie einer von vielen Millionen Menschen, die Dan Millmans „Der Pfad des friedvollen Kriegers“ gelesen haben? Wenn ja, werden Sie in der Bhagavadgita Ursprung und Essenz der darin enthaltenen Ideen finden. Wenn nein, können Sie nach dem Studium der Bhagavadgita Dan Millman als hochspannenden Roman genießen, der überzeitliche Weisheit modern verpackt.


Nur 700 Strophen des Mahabharata


Die Bhagavadgita, der Gesang des Erhabenen, ist nur ein kleiner Teil des gigantischen Mahabharata, das mit seinen 100.000 Strophen zu den längsten Epen der Welt zählt. Dessen Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Zeit. Zugeschrieben wird es dem legendären Weisen Vyasa. Dieser soll, wie viele andere Rishis (Seher, Eingeweihte), seine Unsterblichkeit durch fortwährendes Erscheinen in verschiedenen Zeitaltern bewiesen haben, sodass keine Lebensdaten bekannt sind. Doch welche Rolle spielt die zeitliche Herkunft für einen zeitlosen Text? Abgefasst wurde er in Sanskrit, in jeweils zwei aufeinander bezogenen Verszeilen, die ihrerseits aus 2 achtsilbigen Reihen bestehen. Beispiel gefällig?



evam uktvārjunaḥ saṅkhye 

rathopastha upāviśat,

visṛjya sa śaraṁ cāpaṁ,

śokasaṁvignamānasaḥ.  


Und Arjuna sank leiderfüllt

Auf seines Wagens Sitz zurück,

Der Bogen glitt ihm aus der Hand,

Und Gram umflorte seinen Blick.



Versucht man, so wie hier, Metrum und Reim bei der Übersetzung beizubehalten, geht dies natürlich auf Kosten des Inhaltes. Wer sich also um tieferes Verstehen bemüht, dem sei eine Prosaübersetzung empfohlen.
Die Handlung Erzählt wird die Geschichte der Nachkommen des großen Königs Bharata: der Pandavas (Pandus) und der Kauravas (Kurus). Ihr Streit um die Herrschaft über das Königreich führte zum verheerenden Krieg von Kurukshetra. Unter den fünf Pandava-Prinzen war der rechtmäßige Thronerbe, doch die 100 Kauravas lehnten sich dagegen auf. Als dann noch Arjuna, der Tapfertste der Pandus, als Einziger den gigantischen Bogen spannen konnte, und so die schöne Draupadi zur Gemahlin der Pandus wurde, ersannen die Kurus einen hinterlistigen Plan. In einem unehrlichen Würfelspiel verloren die Pandus alles: das Königreich, die eigene Freiheit und sogar die Gemahlin Draupadi. Für zwölf Jahre mussten sie in die Verbannung, das 13. Jahr unerkannt zubringen. Wenn sie all dies überlebten, würden sie ihr Königreich zurückerhalten. Sie überlebten. Doch die Kurus dachten nicht daran, den Thron wieder herzugeben. Und so kam es zum unausweichlichen Krieg auf dem Schlachtfeld Kurukshetra. Die beiden gewaltigen Heere standen einander gegenüber. Arjuna, der Heerführer der Pandus, hatte niemand Geringeren als Krishna zum Wagenlenker. Diesen bat er nun, den Wagen in die Mitte der beiden Heere zu lenken, um sich ein Bild von den Feinden machen zu können. Doch als er unter seinen Feinden Freunde und sogar Verwandte erblickte, sank ihm jeglicher Mut, der Bogen glitt aus seiner Hand und er beschloss, nicht zu kämpfen.
An dieser Stelle setzt das Zwiegespräch zwischen Krishna, dem Erhabenen, und dem Heerführer Arjuna ein. Dies ist das Lied des Erhabenen, die Bhagavadgita. 


Das Schlachtfeld ist unser Leben


Selbst jene, die bis heute den historischen Hintergrund dieses Krieges und seinen geografischen Schauplatz suchen, billigen dem Epos auch eine allegorische Bedeutung zu. Die im Mahabharata ausgeführte Genealogie der Pandus und Kurus steht analog zum stufenweisen Abstieg des Universums und des Menschen aus einer geistigen in eine materielle Dimension. Innerhalb der materiellen Welt bekämpfen einander das geistige Wesen (die 5 Pandavas) und sein materieller Ausdruck (die 100 Kauravas). Auch wenn der Geist rechtmäßiger König ist, gewinnt das Materielle mehr und mehr die Oberhand und reißt alles an sich. Den Kampf zu beginnen heißt, sich wieder seiner unsterblichen Seele bewusst zu werden, das Leben als jenes Schlachtfeld zu sehen, auf dem wir uns selbst zurückerobern. Die Bhagavadgita liefert eine Art Landkarte für den Weg des Aufstieges aus der Materie zurück ins Geistige.

Die Bhagavadgita steht als Symbol für die ganze Menschheit in ihrem Ringen, das Niederträchtige, Feige, Verlogene und Gierige aufzugeben und in die unergründlichen Tiefen des menschlichen Geistes vorzudringen. Arjuna ist der Gott-Mensch, der zwar von Zweifeln geplagt ist, sich aber mithilfe seiner unsterblichen Seele (dem Wagenlenker Krishna) aus dem materiellen und psychischen Gefängnis befreit. Arjuna ist keine Sagengestalt, Arjuna sind wir, wenn wir uns aus dem Korsett der Unwissenheit, Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit befreien wie der Schmetterling aus seiner Verpuppung. Arjuna ist unser menschliches Bewusstsein, und wenn dieses auf Krishna, unser höheres Selbst, gerichtet ist, verlassen wir das Schlachtfeld unseres Lebens siegreich.  


Der friedvolle Krieger – Meister des Lebens


Arjuna und KrishnaIm Allgemeinen sieht der Mensch sein Schlachtfeld im Außen – in der Partnerschaft, der Familie, dem Kollegenkreis, vor allem im Fremden, sei es ethnisch, politisch oder religiös. Erst wenn der Mensch sich selbst und sein eigenes Leben als Schlachtfeld sieht und sein höheres Selbst als zu erobernden Schatz, wird er zu Arjuna, zum friedvollen Krieger.


Das erste der achtzehn Kapitel der Bhagavadgita wird auch „Arjunas Mutlosigkeit“ genannt. Es ist jene Mutlosigkeit, die uns immer am Anfang eines langen Weges erfasst. Nach guten Vorsätzen und erster Begeisterung macht sich innere Katerstimmung breit. Lieber rechtfertigen wir unsere Fehler und Dummheiten, als dass wir gegen sie ankämpfen. Diese Mutlosigkeit, die uns immer wieder entlang des gesamten Weges überfällt, dieses „es hat ja eh keinen Sinn!“ überwinden wir genau dadurch, dass wir uns Sinn und Ziel unseres Tuns immer vor Augen halten. Der Blick zum Boden gesenkt schafft Mutlosigkeit, der Blick zu den Sternen erhoben generiert Zuversicht und Mut.


Im zweiten Kapitel begegnen wir dem Yoga der Erkenntnis. Zu sehr ist heute alles auf Methodik, schnelle Umsetzung und rasche Ergebnisse orientiert, und das tiefe Forschen fehlt. Doch jegliches Tun ist ohne Erkenntnis und Bewusstsein nutzlos. In der Antike wurde dafür das Symbol des alten und des jungen Hermes gebraucht, Weisheit und Stärke. Die wichtigsten Erkenntnisse sind hier jene von Dharma, Karma und Reinkarnation. In der Übersetzung: Erkenne dein Schicksal und übernimm dafür die Verantwortung, denn du kommst wieder. Genau dies zeichnet den friedvollen Krieger aus: dass er das menschliche Schicksal, den Sinn des Lebens als Entwicklungsweg begreift, dass er daher seines Glückes Schmied wird und niemanden anderen für sein Unglück verantwortlich macht.


Das dritte Kapitel widmet sich nun dem Yoga des Handelns. Hier kommt es zur großen Unterweisung, warum wir nicht „nicht handeln“ können. Selbst mit der Nicht-Handlung setzen wir im Sinne der Karmalehre eine Ursache, die eine Wirkung nach sich zieht. Also auch für unsere Unterlassungen sind wir verantwortlich. Das Einzige, was uns aus diesem endlosen Rad von Ursache und Wirkung befreien kann, ist die absichtslose Handlung. Gutes tun nur um des Guten willen. Eine Art „Tue Gutes und schweige darüber“, ein Handeln ohne jeglichen Eigennutz. Der friedvolle Krieger stellt immer das Gemeinwohl vor das eigene, er kämpft uneigennützig für ein höheres Ziel.

Von spiritueller oder göttlicher Erkenntnis handelt das vierte Kapitel. Hier erklärt Krishna, dass alle spirituellen Wege des Menschen seine Wege seien. Entscheidend ist nicht, ob Christ, Moslem, Hindu oder Buddhist, sondern mit welcher Aufrichtigkeit man strebt und lebt. Alle Weisen und Gründer von Religionen sprechen vom selben Licht, vom selben Gott. Es ist der Mensch, der Grenzen zieht, Mauern errichtet und diese – früher mit dem Schwert, heute mit Bomben – verteidigt. Zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt wurden Weise geboren, aus deren Lehren neue Religionen entstanden. In einem gewissen Sinne können wir von einer Kette der Weisheitsreligion sprechen, und der friedvolle Krieger empfindet sich als Teil dieser Kette. Er spielt sich nicht als Guru eines einzigartigen, neuen Wissens auf, sondern als Schüler und Hüter einer Tradition, die er selbst in aller Bescheidenheit weitergibt.

Im fünften Kapitel kommt die Frage auf den Punkt, ob es besser sei, allen Handlungen zu entsagen oder doch in der Welt zu handeln. Wie immer neigen wir zu Extremen, entweder – oder. So bildeten sich auch in Indien mit der Sankhya- und der Yogaschule zwei Anschauungen heraus, die ihren Anhängern absolute Untätigkeit bzw. ständige Tätigkeit empfahlen. Und die Bhagavadgita erklärt, dass es nicht darauf ankommt, nichts oder ständig zu tun, sondern darauf, nichts zu suchen und nichts zurückzuweisen, das heißt, sich vom Gegensatz der Anziehung und der Abstoßung freizumachen. Handeln, aber niemals an den Früchten der Handlungen hängen. Dadurch hört man auf, ständig dem Erfolg hinterherzulaufen oder sich auf den Lorbeeren auszurasten. Dies zeigt sich auch in der Fähigkeit des friedvollen Kriegers, nichts zu erwarten und nichts zu fürchten, sondern in einer ständigen Präsenz zu leben.

Das sechste Kapitel wird oft Yoga der Selbstbeherrschung genannt. Hier geht es um die große geistige Befreiung, eine Befreiung von allem, was das höhere Selbst gefangen hält. Letztlich ist es die Befreiung von unserer Art zu denken: wir geben, um zu empfangen, wir lieben, um geliebt zu werden, wir gehen, um irgendwo anzukommen, wir säen, um zu ernten. Frei sein heißt, diesem Tauschhandel ein Ende zu bereiten. Ein wahrhaft schwieriges, für uns derzeit wohl unmögliches Unterfangen. Was aber passiert mit jenen, die trotz aller Anstrengungen nicht diese Befreiung erlangen? Waren all ihre Anstrengungen vergebens? Müssen sie quasi wieder von vorne beginnen? Darauf antwortet die Bhagavadgita, dass keine Anstrengung verloren geht. Alles wird in einer Art innerer Natur gespeichert und kommt uns in einem nächsten Leben wieder zugute.
Die Kapitel sieben bis achtzehn wiederholen und vertiefen die Inhalte der ersten sechs, sodass sie hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. All die Unterweisungen, der Dialog mit seinem höheren Selbst, bringen Arjuna schließlich zur Besinnung: „Die Täuschung ist von  mir gewichen, …, ich habe die Erinnerung wiedergewonnen …“ Diese Worte erinnern an den großen Philosophen Platon, der Wissen als Erinnerung bezeichnete. Alles Wissen ist in uns, wir haben es nur vergessen. Um es wachzuküssen, brauchen wir diese inneren Dialoge mit unserer unsterblichen Seele.

Nichts anderes ist die Bhagavdgita als ein solcher innerer Dialog, der unsere Erinnerung wachruft – wer wir sind, wozu wir leben und wie wir dieses Schlachtfeld namens Leben siegreich verlassen. Es ist kein Sieg über andere, sondern einer über uns selbst, es ist der Sieg des friedvollen Kriegers.   
Nicht umsonst rief Wilhelm von Humboldt aus: „Ich danke Gott, dass er mich lange genug hat leben lassen, um dieses Buch zu lesen.“

Literatur:
W. Q. Judge, Studien über die Bhagavad-Gita
Paramahansa Yogananda, Die Bhagavad-Gita
Biren Roy, Mahabharata   


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 138, Oktober 2014 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht
Autor: Mag. Hannes Weinelt
Copyright: Verlag Filosofica

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